Zwischen Paradies und Formung – Grenzräume moderner Landschaftsmalerei
Katalogtext von Anne Simone Krüger, 2016

Eine Hausecke, hinter der Äste hervorragen. Ein Tor, das vom Grün des Waldes fast überwuchert ist. Ein angeschnittener Brückenbogen über seiner eigenen Spiegelung. Eine Hecke, die mit ihren Wurzeln die Pflastersteine langsam anhebt. Melanie Siegels Landschaftsbilder zeigen das Wechselspiel von Natürlichem und Artifiziellem, von Ursprünglichem und von Menschenhand Geschaffenem – Grenzräume, in welchen zwei Welten aufeinanderprallen.

Die Kollision wird in fokussierten Ausschnitten ausgetragen. Im Gegensatz zu den klassischen, im Weitwinkel angelegten Bildern eines Caspar David Friedrich oder John Constable, einem Protagonisten der Englischen Romantik, widmet sich Melanie Siegel kleinen Momenten. Die Motive, die sie wählt, entstammen ihrer unmittelbaren Umwelt – vorwiegend dem urbanen Alltag Münchens und seiner Vororte. Wo einst beeindruckende Berge, erstaunliche Weitblicke und von der Natur beherrschte Szenarien das Genre der Landschaftsmalerei dominierten, treffen diese natürlich gewachsenen Landschaften nun auf räumliche Eingrenzungen, schweift der Blick nicht mehr voller Sehnsucht in die Ferne, sondern nimmt die nächste Umgebung wahr.

Die dargestellten ‚Nicht-Orte’ sind stets durch diese Realität inspiriert. Fundstücke bilden die Basis für die Arbeiten. Sie entstehen auf den Wegen der Künstlerin durch die Stadt und werden photographisch oder zeichnerisch festgehalten. Im Atelier erweitert sie sie jedoch um imaginäre Details. Ziel dieser Erweiterungen ist es, sich dem „Eigentlichen“ beziehungsweise dem für die Künstlerin wichtigen Bildmoment anzunähern, dem Wesen der Dinge Ausdruck zu verleihen. Nicht selten kommt es vor, dass die Bilder während dieser Suche eine enorme Transformation durchlaufen, welche weit vom Ausgangsmotiv wegführt. Ganz im Stile der Romantik erfolgt so eine Verzahnung von Wirklichkeit und Imagination. Wo im 19. Jahrhundert jedoch imposante Ruinen oder gotische Kathedralen als Staffage dienten und den Blick zurück auf ein vermeintlich ‚besseres’ Zeitalter richteten, sind Melanie Siegels Werke im Hier und Jetzt angesiedelt. Das Bild stellt somit eine weitere Möglichkeit dar, zeigt, wie der gleiche Ort auch aussehen könnte. Der Anker in der Realität ist dabei dennoch maßgeblich, und die Veränderungen entstammen dem Gefühl der Künstlerin für die abgebildete Situation, sind teilweise inhaltlich motiviert oder der Ausgewogenheit der Komposition geschuldet.

Auffallend ist die Malweise. Obwohl die Bilder im ersten Moment und aus der Distanz meist sehr realistisch gemalt scheinen, fallen bei der intensiveren Betrachtung undefinierte Stellen auf. Die Darstellung oszilliert zwischen Illusionismus und Abstraktion, wodurch ein dynamischer Wechsel von Schärfe und Unschärfe hervorgerufen wird. Gerade in den älteren Bildern ist neben dem Bildsujet häufig auch die Malerei selbst Thema und zeigt sich in expressiven Gesten, während die neueren Bilder zunehmend an Schärfe gewinnen. Die Technik der Lasur mit oftmals extrem dünnen, immer wieder übereinander aufgetragenen Farbschichten, verleiht den Bildern zudem eine intensive Farbbrillanz. Durch die Verwendung von kraftvollen Farben als Grundierung scheinen viele der Bilder von innen heraus zu leuchten, nahezu in einem sanften orangen oder pinken Unterton zu vibrieren, der neben den realistischen Landschaftsfarben mitschwingt.

Dass die abgebildeten Situationen keine Mimesis sind und sich damit dem Anspruch entziehen, die Natur eins zu eins wiederzugeben, zeigt sich auch in der durchdachten Raumkonstruktion der Arbeiten. Oft ist der Tiefenraum gestaffelt konstruiert – es ergeben sich Durchblicke, die eine fragmentarische Sicht auf das Dahinter eröffnen. Teilweise befindet sich im Vordergrund ein einzelner Baum oder eine Hecke, die den direkten Blick verstellen. Oder eine Mauer versperrt die Sicht, hinter der wir nur die Spitzen von Bäumen hervorragen sehen. Auf einem der Bilder ist es ein Gartentor, welches wie einem Märchen entnommen scheint. Und ähnlich wie in jedem Märchen lässt es dem Betrachter einen leisen Schauer über den Rücken laufen. Denn obwohl wir nichts sehen, vermittelt die Atmosphäre den Eindruck, dass gleich der böse Wolf auftauchen wird oder eine Hexe das Tor öffnen könnte. Allein durch das dem Bild über seine Farbtemperatur mitgegebene Kolorit verleiht die Künstlerin ihm eine verwunschene und gleichzeitig düstere Stimmung. Die subtile malerische Lichtbehandlung betont diese Atmosphäre noch. Genau dieser Moment ist das Mysterium von Melanie Siegels Bildern. Es ist der Grund, warum sie, trotz ihrer scheinbaren Arglosigkeit, faszinieren und den Blick so lange fesseln.

Schließlich evoziert jedes einzelne der Werke auf seine ganz eigene Weise das Gefühl, dass die Situation jeden Moment kippen könnte. Den Arbeiten, die so punktuell die Formung der Natur durch den Menschen und die gleichzeitige Rückformung urbaner Strukturen durch die Natur aufzeigen, wohnt eine subtile Ankündigung eines potenziellen Umschwungs inne. Denn was zeigen sie? Betrachten wir die Bilder als eine große Erzählung, die sich über mehrere Schaffensjahre erstreckt, dann fällt auf, dass selbst die Arbeiten, in welchen die Künstlerin auf offensichtliche menschliche Spuren verzichtet, letztlich urbane Landschaften sind. Der Wald ist stets ein Forst, fein säuberlich in Reihe gepflanzt und auch die Äcker sind vom Menschen geformt. So gehen wir unweigerlich davon aus, dass der Mensch nicht weit sein kann und müssen doch feststellen, dass er im Kosmos der Künstlerin nicht physisch anwesend ist.

Diese Absenz lässt ihn uns umso deutlicher in seiner Rolle als Modelleur der Landschaft ins Bewusstsein treten. Die ursprüngliche Natur hat er in seinem Sinne geformt. Bereits das Alte Testament formuliert den Satz „Macht euch die Erde untertan“. Und René Descartes schreibt in seinem 1637 veröffentlichten ‚Discours de la méthode’ nicht weniger zurückhaltend, die Menschen seien „Herrscher und Besitzer der Natur“. Das Paradies wird vom Menschen in eine Kulturlandschaft transformiert. Diese jedoch tritt hier die Rückeroberung an. Sie wächst und wuchert, wurzelt und sprießt. Dass die Pflanzen das einzige Lebendige in den Bildern sind, lässt sie umso übermächtiger wirken. Vermutlich ist es genau diese Tatsache, gepaart mit den verblüffenden Bildausschnitten, die das Gefühl vermitteln können, die Bäume würden sich auf uns als Betrachter zubewegen und uns das vermeintliche leise Knirschen hören lassen, mit welchem die Hecke mit ihren Wurzeln langsam die Pflastersteine anhebt.

Haben wir es mit einem dystopischen Endzeitszenario zu tun? Mit einer der Möglichkeiten, wie die Dinge sein könnten? Oder doch lediglich mit einer neuen Art der Landschaftsmalerei, einer urbanen Landschaftsmalerei, welche bei uns Assoziationen wachruft, die letztlich der aktuellen Debatte über das ökologische Ungleichgewicht und den Klimawandel geschuldet sind?

Über Jahrhunderte hinweg haben Künstler Landschaften gemalt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts etablierte sich mit den deutschen Romantikern die Wiedergabe von Weltschmerz und Natursehnsucht. Friedrich Schlegel fasste das Bestreben der Maler in Worte, als er formulierte, dass die Welt kein „Rechenexempel“ sei, sondern voller Geheimnisse und Mysterien stecke, die sich verstandesgemäßen Erklärungen entzögen und nur über das Fühlen zugänglich seien. John Constable erklärte nicht weniger pathetisch, dass Malen für ihn „nur ein anderer Ausdruck für Fühlen“ sei. Kann es solche, nur über die Emotionen erfahrbaren, Geheimnisse heute noch geben, wo die naturwissenschaftliche Forschung bis in den Bereich der kleinsten Elemente vorgedrungen ist und weder vor Atomen noch vor dem Weltall Halt macht? In Melanie Siegels Arbeiten bekommen wir wieder ein Gefühl für dieses Geheimnisvolle und den Hauch einer Ahnung, wie die Rätselhaftigkeit sich anfühlt. Denn ihr gelingt die atmosphärische Präsentation einer Natur, die gleichzeitig gestaltet und geheimnisvoll ist.

Damit legt sie den Stein für ein den aktuellen Gegebenheiten angepasstes Verständnis von Landschaftsmalerei und zeigt gleichzeitig, dass diese Gattung auch heute noch lange nicht abgearbeitet ist.