Melanie Siegel – Von Sinnbildern der urbanen Natursehnsucht

Landschaftsmalerei erfährt in den Werken der in München lebenden Künstlerin Melanie Siegel eine Art Verjüngungskur, die sowohl neue Blickwinkel auf ein tradiertes Thema eröffnet als auch im selben Zuge unser Verhältnis zur Wirklichkeit befragt. Die zunächst realistisch anmutenden Szenarien präsentieren Motive scheinbarer Vorstadtidyllen; sie zeigen ein von einer Hecke überwuchertes Gartentor, eine baumkronengerahmte, akkurat rechtwinklig angelegte Tennisplatzanlage, einen stromleitungsdurchkreuzten Himmel oder einen penibel gepflegten, pflanzenumstandenen Swimmingpool aus der Vogelperspektive. Immer handelt es sich dabei, so wird schnell deutlich, um Grenzräume, in welchen Natürliches und Artifizielles, organisch Wucherndes und menschlich Konstruiertes aufeinanderprallen.

Nicht weniger konstruiert als die geformte Kulturlandschaft sind auch die Bildwelten selbst. Fragmente der Wirklichkeit stellen lediglich eine Komponente in der Werkentstehung dar. Versatzstücke der Realität in Form von im Alltag gesammelten Eindrücken oder jüngst auch Satellitenaufnahmen werden im Atelier um assoziative und imaginative Aspekte erweitert, die Komposition, Lichtführung und atmosphärische Wirkung genauestens durchdacht und mit malerischen Auflösungen unterlegt. Denn die Glaubwürdigkeit der Bilder zerbröselt bei genauerer Betrachtung nicht nur inhaltlich, sondern auch auf formaler Ebene. So zerfällt der scheinbare Realismus der Malerei in Kongruenz zum Realismus des Motivs: Abstrakt gehaltene Partien und der Aufbau der Darstellung aus zahlreichen getupften Pinselstrichen, Lasuren und Verdichtungen erzeugen auf der Oberfläche eine dynamische Spannung.

Ergänzt wird diese Spannung um die meist ungewöhnlichen Bildausschnitte, in welchen die durchdachten Raumkonstruktionen in wirkungsvoller Weise zur Geltung gekommen. Gerade in den neueren Arbeiten erfolgt oftmals ein Heraustreten aus der subjektiven Perspektive. Insbesondere in den in Draufsicht dargestellten Architekturen, Tennisplätzen oder Pools entfernt sich der Blick zunehmend vom Boden und wird verstärkt objektiver. Trotzdem bewahren sich auch diese Motive den Hauch des Rätselhaften, der sämtlichen Bildern der Künstlerin anhaftet. Durch den Verzicht auf alles Anekdotische wirken die Szenerien wie aus der Zeit gefallen und evozieren doch, dass die Situation im nächsten Moment kippen könnte. Die vordergründige Ruhe wird unmerklich von einer ambivalent aufgeladenen Atmosphäre überlagert, die Stimmung oszilliert zwischen Harmonie und Befremden. In welche Richtung die labile Ausgewogenheit sich neigen wird, bleibt jedoch stets offen und den subjektiven Erwartungen der Betrachtenden überlassen. Deutlich wird dagegen, dass Melanie Siegel in ihren eindrücklichen Bildfindungen gerade durch die vorgenommenen Transformationen zum jeweiligen Kern des Motivs vordringt und das Wesen bzw. die Sache selbst einfängt.

So erschafft sie Sinnbilder, die als Ausdruck unserer Zeit vom Auseinanderklaffen von Natursehnsucht und menschlichem Eingriff in die Umwelt, vom Zwiespalt zwischen authentischem Erholungsort und dem urban geprägten Bedürfnis nach optimierter Ordnung erzählen. Die menschlich konstruierte Wirklichkeit wird dabei genauso auf den Prüfstand gestellt wie der Illusionismus des Bildes; beide erweisen sich als reine Hypothese. Mit ihren Werken verleiht Melanie Siegel der Landschaftsmalerei ein zeitgenössisches Antlitz und führt vor Augen, dass das Genre noch lange nicht ausgeschöpft ist und sich vor dem Hintergrund aktueller Debatten sogar vitaler denn je zeigt.

Anne Simone Krüger, Kunsthistorikerin